Beantragt der Steuerpflichtige eine sog. Günstigerprüfung bei den
Kapitaleinkünften, damit abweichend vom Abgeltungsteuersatz von 25 % der
niedrigere individuelle Steuersatz angesetzt wird, führt dieser Antrag nicht zu
einer Anlaufhemmung beim Beginn der Verjährungsfrist.

Hintergrund: Die
Festsetzungsfrist beträgt vier Jahre. Sie beginnt grundsätzlich mit Ablauf des
Jahres, in dem die Steuer entstanden ist. Ist der Steuerpflichtige zur Abgabe
einer Steuererklärung verpflichtet, beginnt die Festsetzungsfrist erst mit
Ablauf des Jahres, in dem die Steuererklärung abgegeben wird, spätestens nach
drei Jahren (sog. Anlaufhemmung). Eine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung
besteht z.B. für Steuerpflichtige, die neben ihrem Arbeitseinkommen bzw.
Versorgungsbezügen noch positive Einkünfte in Höhe von mehr als 410 €
erzielt haben, die noch nicht versteuert worden sind.

Kapitaleinkünfte unterliegen grundsätzlich der Abgeltungsteuer von
25 %. Der Steuerpflichtige kann aber beantragen, dass eine sog.
Günstigerprüfung durchgeführt und sein individueller Steuersatz angewendet
wird, wenn dieser niedriger ist.

Sachverhalt: Die Kläger waren
Erben ihrer im März 2018 verstorbenen Mutter. Sie reichten für ihre verstorbene
Mutter Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 2014 und 2015 am
30.12.2020 ein. In beiden Einkommensteuererklärungen erklärten sie
Versorgungsbezüge, von denen bereits Lohnsteuer einbehalten worden war.
Außerdem gaben sie für 2014 inländische Kapitalerträge in Höhe von ca. 4.500
€ an, von denen Abgeltungsteuer einbehalten worden war. Für 2015
erklärten sie zum einen inländische Kapitalerträge in Höhe von ca. 1.500
€, von denen Abgeltungsteuer einbehalten worden war, und zum anderen
ausländische Kapitalerträge in Höhe von ca. 2.600 €, von denen bislang
keine Steuer einbehalten worden war. Für beide Jahre beantragten sie die sog.
Günstigerprüfung für sämtliche Kapitaleinnahmen. Das Finanzamt lehnte die
Durchführung von Einkommensteuerveranlagungen wegen Verjährungseintritts ab.

Entscheidung: Der
Bundesfinanzhof (BFH) gab der Klage bezüglich der Einkommensteuer 2015 statt
und wies die Klage hinsichtlich der Einkommensteuer 2014 ab:

  • Für 2014 war bereits Verjährung eingetreten. Die vierjährige
    Verjährungsfrist begann mit Ablauf des 31.12.2014 und endete daher mit Ablauf
    des 31.12.2018.

  • Eine Anlaufhemmung von drei Jahren war nicht eingetreten, da
    keine Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung bestand. Denn die
    Mutter hatte neben ihren bereits versteuerten Versorgungsbezügen und
    Kapitaleinnahmen nicht mehr als 410 € Einkünfte erzielt. Die
    Kapitaleinnahmen waren bei der Prüfung der Grenze von 410 € nicht
    einzubeziehen, da sie bereits der Abgeltungsteuer unterlegen hatten. Von den
    Versorgungsbezügen war bereits Lohnsteuer einbehalten worden. Es gab somit
    keine weiteren Einkünfte, die noch nicht besteuert waren.

  • Der Antrag auf Günstigerprüfung für 2014 begründete keine
    Pflicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung und löste daher keine
    Anlaufhemmung von bis zu drei Jahren aus. Der Antrag auf Günstigerprüfung für
    2014 stellte auch kein rückwirkendes Ereignis dar, das zu einer erneuten
    vierjährigen Festsetzungsverjährung geführt hätte.

  • Für 2015 hat die Klage jedoch Erfolg, da die Mutter noch
    ausländische Kapitaleinnahmen von ca. 2.600 € erzielt hatte, die noch
    nicht versteuert worden waren. Damit war die Grenze von 410 €
    überschritten, und es bestand eine Pflicht zur Abgabe einer
    Einkommensteuererklärung, so dass es zu einer Anlaufhemmung im Umfang von drei
    Jahren kam. Damit begann die Verjährungsfrist erst mit Ablauf des 31.12.2018
    und endete mit Ablauf des 31.12.2022. Die Abgabe der Einkommensteuererklärung
    im Jahr 2020 war folglich rechtzeitig erfolgt.

Hinweise: Ausnahmsweise kann der
Antrag auf Günstigerprüfung im Zusammenhang mit einem rückwirkenden Ereignis
stehen, so dass dann eine erneute Verjährungsfrist von vier Jahren ausgelöst
wird. Dies ist der Fall, wenn es bereits einen Einkommensteuerbescheid mit
hohen Einkünften gibt, so dass ein Antrag auf Günstigerprüfung nicht sinnvoll
ist, weil der individuelle Steuersatz höher ist als 25 %. Dann wird der
Einkommensteuerbescheid jedoch zu Gunsten des Steuerpflichtigen geändert und
das Einkommen so deutlich herabgesetzt, dass nunmehr ein Antrag auf
Günstigerprüfung in Betracht kommt. Der BFH sieht in der niedrigeren
Steuerfestsetzung im Änderungsbescheid ein rückwirkendes Ereignis. Im aktuellen
Streitfall lagen jedoch die Voraussetzungen für einen Antrag auf
Günstigerprüfung von Anfang an vor.

Quelle: BFH, Urteil vom 14.5.2025 – VI R 17/23; NWB