Nach einem aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
kann der Unternehmer die Umsatzsteuer aus der an ihn gerichteten Rechnung eines
Ist-Versteuerers erst dann geltend machen, wenn er die Rechnung bezahlt. Es
genügt also nicht, dass die Leistung ausgeführt worden ist und die Rechnung
vorliegt. Das Urteil des EuGH widerspricht damit der umsatzsteuerlichen
Rechtslage in Deutschland.

Hintergrund: Grundsätzlich gilt
im Umsatzsteuerrecht die sog. Soll-Versteuerung. Das heißt, der Unternehmer
muss die Umsatzsteuer abführen, sobald er die Leistung ausgeführt hat. In
bestimmten Fällen, z. B. bei Unternehmern mit Umsätzen von maximal 600.000
€ jährlich oder bei Freiberuflern, kann auf Antrag die sog.
Ist-Versteuerung erfolgen: Der Unternehmer muss die Umsatzsteuer dann erst im
Zeitpunkt der Bezahlung seiner Ausgangsrechnung abführen. In beiden Fällen
(Soll- und Ist-Versteuerung) kann der Leistungsempfänger nach bisheriger Praxis
die Vorsteuer aber dann geltend machen, wenn die Leistung an ihn ausgeführt
worden ist und eine ordnungsgemäße Rechnung vorliegt; auf die Bezahlung der
Rechnung kommt es für den Vorsteuerabzug nach deutschem Recht also nicht an.

Sachverhalt: Die Klägerin war
eine Hamburger Grundstücksgemeinschaft, die ein Grundstück
umsatzsteuerpflichtig angemietet und umsatzsteuerpflichtig weitervermietet
hatte. Der Vermieter war ein Ist-Versteuerer und führte die Umsatzsteuer aus
den Mietzahlungen der Klägerin erst im Zeitpunkt der Mietzahlung der Klägerin
ab. Die Klägerin war aufgrund der Umsatzsteuerpflicht ihrer Vermietung
grundsätzlich zum Vorsteuerabzug aus den Rechnungen des Vermieters berechtigt;
eine ordnungsgemäße Rechnung lag in Gestalt des Mietvertrags vor. Die Klägerin
zahlte die Mieten für 2009 bis 2012 aufgrund einer mit dem Vermieter
vereinbarten Stundung aber erst in den Jahren 2013 bis 2016. Sie machte die
Vorsteuer aus der Miete für 2009 bis 2012 erst in den Jahren 2013 bis 2016
geltend. Das Finanzamt vertrat die Auffassung, dass die Vorsteuer in den
Veranlagungszeiträumen 2009 bis 2012 hätte geltend gemacht werden müssen, die
allerdings bereits verjährt waren. Das Finanzgericht Hamburg (FG) legte den
Fall dem EuGH vor.

Entscheidung: Der EuGH folgte
der Rechtsauffassung der Klägerin:

  • Nach europäischem Recht ist der Vorsteuerabzug an den Zeitpunkt
    der Entstehung der Umsatzsteuer geknüpft. Die Vorsteuer aus einer Leistung kann
    also erst dann geltend gemacht werden, wenn der leistende Unternehmer die
    Umsatzsteuer abführen muss.

  • Ist der leistende Unternehmer ein Ist-Versteuerer, muss er die
    Umsatzsteuer erst im Zeitpunkt der Zahlung an das Finanzamt abführen. Daher
    kann auch der Leistungsempfänger die Vorsteuer erst im Zeitpunkt der Zahlung
    abziehen.

  • Im Streitfall ging es um die Leistung eines Ist-Versteuerers,
    nämlich des Vermieters. Soweit die Klägerin die Miete für 2009 bis 2012 an den
    Vermieter erst im Zeitraum 2013 bis 2016 gezahlt hat, muss der Vermieter die
    Umsatzsteuer erst in den Jahren 2013 bis 2016 an das Finanzamt abführen, so
    dass die Klägerin auch erst in den Jahren 2013 bis 2016 die Vorsteuer abziehen
    kann. Die deutsche Rechtslage, nach der der Vorsteuerabzug bereits mit der
    Ausführung der Leistung und dem Erhalt der Rechnung zulässig ist, verstößt
    gegen das europäische Umsatzsteuerrecht.

Hinweise: Die abschließende
Entscheidung muss das FG treffen. Die Entscheidung des EuGH wird den
Vorsteuerabzug in Deutschland beeinflussen; denn der Gesetzgeber wird auf das
Urteil des EuGH reagieren müssen. Vermutlich wird sich vorher noch die
Finanzverwaltung zu dem Urteil äußern.

Das Urteil des EuGH ist für alle Unternehmer, die Vorsteuer geltend
machen, von Bedeutung und betrifft daher auch vorsteuerabzugsberechtigte
Unternehmer, die Soll-Versteuerer sind. Das EuGH-Urteil wirkt sich aus, wenn
ein Unternehmer (Soll- oder Ist-Versteuerer) eine Leistung von einem
Ist-Versteuerer erhält und diesen nicht sogleich bezahlt. Der Vorsteuerabzug
ist dann erst im Zeitpunkt der Bezahlung und nicht schon im Zeitpunkt des
Rechnungserhalts möglich. Erhält der Unternehmer hingegen eine Leistung von
einem Soll-Versteuerer, ändert sich durch das EuGH-Urteil nichts; die Vorsteuer
ist wie bisher dann abziehbar, wenn die Leistung ausgeführt worden ist und eine
ordnungsgemäße Rechnung vorliegt.

Unklar ist, wie der vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer wissen
soll, dass der leistende Unternehmer ein Ist-Versteuerer ist; eine
entsprechende Hinweispflicht in der Rechnung gibt es nach deutschem Recht
nämlich nicht.

EuGH, Urteil v. 10.2.2022 – Rs. C 9/20; NWB